Leseprobe

 

 

Veröffentlicht auf Wattpad und Inkitt.

Prolog

Ein Problem

"Die Fertilität ist ein Problem", sagte Regilla. Ihre junge Pflegerin schob sie im Rollstuhl den langen Gang hinauf; Wände aus unverputztem Beton, makellos rein geschrubbt, beinahe poliert von den unzähligen Händen, die ihn sauber hielten. "Wir hatten zwei schlechte Jahre, und einige der jungen Mütter sind gestorben. Andere wurden der Großen Göttin dargebracht, weil sie zwei Jahre keinen Nachwuchs hatten."

"Ja." Entu nickte. Sie hielt mühsam mit Regillas Rollstuhl Schritt, stützte sich dabei auf zwei Stöcke, die unter ihrem Gewicht zitterten. Entu war 49, und sie war immer stolz darauf gewesen, aus eigener Kraft laufen zu können. "Die Fertilität."

"Auch die Beschäler haben ihren Teil nicht beigetragen."

"Haben die anderen Gemeinden nicht genug geschickt?", fragte Entu. Sie hatte damit begonnen, sich aus dem aktiven Dienst zurückzuziehen und ihre Aufgaben zu verteilen. Im nächsten Jahr würde sie sich auf ihr Altenteil zurückziehen.

"Es gab Ausfälle", antwortete Regilla mit einem Achselzucken. Sie war eine dürre Frau, ihr Körper war ausgemergelt, von dem langen Dienst für die Gemeinde gezeichnet. Sie hatte viel gegeben, und ihr Körper hatte das schlechter vertragen als andere. "Auch Unfälle."

"Und unsere eigenen Beschäler?"

"Die meisten waren außerhalb unterwegs. Den Berichten der anderen Gemeinden zufolge haben sie ihre Aufgabe mehr oder weniger gut erledigt, aber nur wenige sind zurückgekehrt."

"Also weniger gut erledigt", stellte Entu fest.

Regilla lachte heiser. "Ja, so könnte man es sagen."

"Muss ihre Ausbildung angepasst werden?"

"Elpinice prüft das gerade."

Entu nickte.

"Wir müssen gegensteuern", erklärte Regilla.

Sie hatten das Ende des langen Ganges erreicht, und die Pflegerin schob sie hinaus in den Sonnenschein. Sie befanden sich nun auf der Kuppel des Großen Saales, und von hier oben konnten sie auf die einzelnen Bereiche der Gemeinde hinabblicken: den Säuglings- und Kleinkinderbereich, die Unterkünfte der Arbeiterinnen und Putzkräfte; sie sahen den Kasernenbereich der Soldatinnen und auf der anderen Seite auch den Bereich, in dem die jungen Männer und Beschäler lebten.

"Das wird dauern", gab Entu zu bedenken.

"Zwei oder drei Jahre", sagte Regilla. "Dann ist wieder alles so, wie es sein soll."

"Das werde ich nicht mehr erleben", stellte Entu trocken fest.

"Nein, aber du kannst es mitentscheiden."

"Wie willst du es in den Griff bekommen?"

"Wir werden mehr Mädchen in den Adelsstand erheben", erklärte Regilla. "Wir müssen die Quote erhöhen, um mehr Nachwuchs zu produzieren."

"Die Quote hat einen Grund, die Auswahlkriterien sind streng."

"Die Qualität wird leiden", gab Regilla zu. "Aber nicht sehr. Und wir können es steuern. Wir können die Quote erhöhen, wenn das Material es hergibt und wieder zurückgehen, wenn wir sehen, dass sie nicht ausreicht."

"Und die Beschäler?"

"Wir brauchen mehr", sagte Regilla. "Wir müssen für mehr Jungen sorgen."

"Dafür gibt es Mittel." Entu nickte. Das Verhältnis zwischen männlichem und weiblichem Nachwuchs ließ sich sehr gut steuern. "Zwei bis drei Jahre, sagst du?"

"Ja. Nicht mehr. Dann können wir wieder zu den alten Verfahren zurückkehren und so weitermachen wie immer. Wir müssen nur einen Ausgleich schaffen."

Entu überlegte.

"Ich glaube, du hast Recht", sagte sie dann. "Ich stehe hinter dir."

Regilla nickte, dann drehte sie sich in ihrem Rollstuhl um, um ihre Pflegerin zu betrachten. Die junge Frau schaute mit verträumtem Blick über die einzelnen Bereiche der Gemeinde hinaus. Sie kannte sie alle, hatte bereits in jedem gearbeitet.

"Wie alt bist du, Kind?", fragte Regilla.

Die Pflegerin zuckte zusammen, hatte nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden.

"23", antwortete sie.

"Nächstes Jahr wirst du in die Kaserne gehen", sagte Regilla und betrachtete sie eingehend. "Glaubst du, du bist der Herausforderung gewachsen?"

Die Pflegerin nickte. "Ja", antwortete sie mit Nachdruck. "In unseren Unterkünften herrscht ein strenges Regiment. Die Lehrerinnen achten auf uns. Wir arbeiten hart."

Regilla nickte und warf Entu einen Blick zu. "Das ist gut."

Entu fragte sich, was dieses Zwischenspiel zu bedeuten hatte. Regilla war nicht immer leicht zu durchschauen.

"Wir müssen zwei oder drei Jahre überbrücken", fuhr Regilla schließlich fort. "Wir brauchen Mädchen wie dieses hier. Aber wir hatten zu wenig. Der Stand der Hebammen und Pflegerinnen ist unterbesetzt. Wir haben nicht genug Kräfte, um Jungen und Mädchen getrennt voneinander zu betreuen."

"Was willst du damit sagen?", fragte Entu.

Regilla schaute nachdenklich in Richtung des Männerkomplexes.

"Es sind nicht viele", sagte sie leise. "Etwa 150 Kinder, aber wir müssen sie betreuen. Und wir haben die Kräfte nicht frei."

"Wir brauchen sie."

"Natürlich." Regilla nickte. Wieder warf sie der Pflegerin einen Blick zu, schien zu überlegen, ob sie in Gegenwart der jungen Frau sprechen konnte. Entu war gespannt. Regilla räusperte sich, bevor sie weitersprach.

"Wir müssen etwas ändern", sagte sie leise. "Wir müssen über einen radikalen Schritt nachdenken."

"Woran denkst du?"

"Die Jungen binden Hebammen und Pflegerinnen, die uns bei den Mädchen fehlen. Es ist leichter, sie zu betreuen, wenn sie alle zusammen sind. Wir müssen nicht zwei komplette Besetzungen bereithalten; es reicht eine Besetzung, und jede Pflegerin leistet ein wenig mehr. Im Moment müssen sie übermenschliches leisten. Das entfiele dadurch."

"Das ist unsagbar", entfuhr es Entu.

Regilla nickte. "Ja, nicht wahr?"

Die beiden Priesterinnen schwiegen, während sie sich langsam und mühsam fortbewegten. Ihre Gemeinschaft basierte auf der getrennten Betreuung von Jungen und Mädchen. Es kam nicht zu Überschneidungen, es kam nur zu den notwendigen Begegnungen. Und die anderen Gemeinden waren nach dem gleichen Muster aufgebaut. Ein Verfahren, das sich in den letzten zweihundert Jahren bewährt hatte.

"Was werden die anderen Gemeinden dazu zu sagen haben?", fragte Entu schließlich. Je mehr sie über Regillas Worte nachdachte, desto größere Zweifel kamen ihr.

"Wir müssen Boten aussenden und dies erfragen", antwortete Regilla. "Aber ich glaube nicht, dass wir eine andere Wahl haben. Wir könnten ganze Jahrgänge verlieren, wenn wir nicht schnell etwas unternehmen."

"Das darf nicht geschehen."

"Nein. Das darf nicht geschehen."

Wieder bewegten sie sich schweigend fort, und Entu dachte über Regillas Vorschlag nach. Er war radikal und brach mit allen Traditionen, die Auswirkungen waren nicht abzusehen; aber er barg auch die Chance, etwas Neues zu lernen. Er barg die Chance, grundlegendes Verständnis aufzubauen; etwas, das die Alten gehabt haben mochten, das ihnen nun aber fehlte.

"Warum sprichst du mit mir?", fragte sie schließlich. "Warum hast du deinen Vorschlag nicht in der Versammlung vorgetragen?"

"Du bist die Älteste", antwortete Regilla, ohne zu zögern. "Dein Wort hat Gewicht. Du hast den Respekt aller Priesterinnen, und auf deinen Vorschlag wird man hören. Ich? Ich bin noch nicht lange genug im Amt, um derart radikale Forderungen zu stellen."

Entu nickte. Regilla hatte die Situation richtig eingeschätzt.

"Du willst, dass ich deinen Vorschlag als meinen ausgebe?"

Regilla schüttelte den Kopf. "Nein. Ich will, dass du mich unterstützt. Wenn du zu mir stehst, werden die anderen darüber nachdenken. Aber ich will deinem Ruf nicht schaden, sollte der Vorschlag scheitern."

Entu neigte den Kopf. "Das ist sehr rücksichtsvoll."

Sie waren auf der großen Aussichtsplattform angekommen, von der aus sie das ganze Gelände überblicken konnten, die einzelnen Komplexe, die Bereiche, die Gebäude. Sie sahen die hohen Mauern, die die Gemeinde umgaben, sahen die schweren Tore und Schleusen. Dahinter die Felder, den Wald. Jenseits erstreckte sich Ödland. Man sprach noch immer von großen Wüsten, aber das hatte sich während vergangener Generationen wieder geändert. Man hielt daran fest, um das Narrativ nicht zu stören.

"Wir sollten eine Versammlung einberufen und deinen Vorschlag den anderen unterbreiten."

"Das habe ich bereits getan. Morgen früh werden wir zusammenkommen."

Entu betrachtete die jüngere Frau nachdenklich, schließlich nickte sie. "Morgen früh", sagte sie dann.


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