Leseprobe
Veröffentlicht auf Wattpad, Inkitt und FanFiktion. |
WulfensitzIn der Nacht war der erste Schnee gefallen. Die Garnison und die umgebenden Felder lagen unter einer dichten Schneedecke begraben; der Wind pfiff kalt über die Zinnen der Wachtürme, und die wachhabenden Krieger marschierten hin und her und stampften mit ihren dick gefütterten Stiefeln auf den Boden, um sich warm zu halten. Wulfger stand auf dem Nordwestturm der inneren Festung, einem der sechs großen Wehrtürme. In der Nord- und der Südmauer befanden sich die schweren Toranlagen, durch die man in den großen Innenhof gelangte; hier befanden sich die Kasernen der Mannschaften, die Stallungen, Küche, Wäscherei, Schmiede und Werkstatt sowie die Unterkünfte der Offiziere und das Haus des Garnisonskommandanten. Umgeben war die innere Festung von einem Außenhof, auf dem exerziert und trainiert wurde, dahinter folgte die äußere Wehrmauer mit ihren zehn kleineren, ebenfalls massiven Wehrtürmen und den beiden schmaleren Toranlagen: eine im Nordosten, eine im Südwesten. Die Garnison selbst war von einem Graben umgeben, an den sich Felder und Weiden anschlossen, dahinter folgten die dichten Wälder des Nordens, die von einem Netz vielbefahrener Straßen durchzogen waren. Die nördlichen Regionen waren kalt, die Winter lang und hart; aber der Boden war fruchtbar und es gab viele Siedlungen, Dörfer und einige Städte. Weit im Norden ragten die Berge schroff in den Himmel. Im Schein der Sommersonne wirkten sie düster und abweisend, im Winter waren sie kalt und tödlich. Wulfger schlang die Arme um den Leib, klopfte sich etwas Wärme in die Glieder. Er trug dicke Pelze und mehrere Lagen Leinen, aber die Kälte drang überall ein. Nach Schichtende konnte er in die Messe gehen, essen und Bier trinken und sich dann um seine Ausrüstung kümmern, bevor er ein paar Stunden schlafen durfte. Ein patrouillierender Krieger blieb stehen und verlangte Bericht. Wulfger antwortete in knappen Worten. Vor einigen Stunden hatte es aufgehört zu schneien, doch der Himmel war noch immer grau und wolkenverhangen und der Schneefall konnte jederzeit wieder einsetzen. Im Augenblick war die Sicht gut; alles war frei. Der Krieger nickte und setzte seinen Weg fort. Bald darauf löste sich im Nordwesten eine Reitergruppe langsam aus dem Wald, und Wulfger gab Signal. Andere Wachen bestätigten. Am Nordtor, dem die Gruppe sich näherte, wurden Krieger zusammengezogen. Wulfger kniff die Augen zusammen. An zweiter Position ritt Tiernan, den er an seiner Haltung erkannte: stets ungeduldig. Wulfger grinste; er hatte Tiernan nie anders kennengelernt. Die Patrouille näherte sich dem Nordwesttor. Wulfger erkannte mehr und mehr, bis er einzelne Gesichter ausmachen konnte. Tiernan blickte zu ihm auf, Wulfger hob grüßend die Hand, Tiernan grüßte zurück, einige der anderen ebenfalls. Sie verschwanden im Schatten der äußeren Mauer, durchquerten wenige Augenblicke später den äußeren Hof und ritten schließlich durch das Nordtor in den Innenhof ein. Die Pferde schnaubten, Hufeisen klapperten auf den Steinen. Die Krieger saßen ab und führten die Tiere zu den Stallungen, wo sie sie absatteln, abreiben und eindecken würden, bevor sie selbst in die Messe gehen durften. Wulfger wandte sich ab und ließ seinen Blick wieder über die weiße Landschaft im Norden und Westen der Garnison gleiten. Bis auf die Spuren der Patrouille war die Schneedecke unberührt. Als seine Ablösung kam, klopfte er dem jungen Krieger auf die Schulter, wickelte sich noch einmal dicker in seine Pelze und trat den Weg zur Messe an. Tiernan saß bereits mit einigen anderen an einem der großen Holztische. Sein Freund hob die Hand, Wulfger nickte ihm zu, ging zum Tresen, hinter dem ein weiterer Krieger Küchendienst verrichtete. Wulfger bekam eine Schüssel kräftige Brühe mit Gemüse und viel Fleisch, dazu ein Viertel Brot und einen Humpen Bier. Er bedankte sich bei seinem Kameraden und ging zu Tiernan und den anderen. Grunzend ließ er sich auf die Holzbank sinken und begann zu essen. Die heiße Brühe wärmte ihn und irgendwann legte er den ersten Pelz ab. Nach und nach folgten weitere. Er hob seinen Humpen Bier und stieß mit seinen Kameraden an, aber erst als er aufgegessen hatte, war er bereit, sich an ihrem Gespräch zu beteiligen. "Irgendetwas zu berichten?", fragte Tiernan. "Nichts." Wulfger schüttelte den Kopf. "Alles ruhig. Anfangs hat es noch geschneit, da war die Sicht nicht gut, aber später haben wir einen weiten Blick gehabt. Die Welt schläft." Tiernan nickte. "Draußen war es ähnlich. Wir sind einige Meilen nach Norden geritten, dann nach Westen und schließlich auf Umwegen zurück. Wir haben nichts gesehen." "Wie war es im Schneetreiben?" Boswig schnaubte. Zu Beginn waren sie auf den Feldern gewesen und hatte kaum etwas erkannt, dann waren sie in den Wald geritten und die Bäume hatten das Schlimmste von ihnen abgehalten. "Als es aufhörte zu schneien, lag die Welt unter einem Leichentuch", murmelte Tiernan. "Spuren?", fragte Wulfger, aber er kannte die Antwort. "Hasenspuren", sagte Tiernan frustriert. "Ein Hirsch. Keine Spur von Orks." "Weißt du überhaupt, wie Orkspuren aussehen?" Wulfger lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Ihre Kameraden stimmten ein, aber Tiernan starrte dumpf auf seine leere Schüssel. "Ich habe lange keine mehr gesehen", brummte er. "Viel zu lange." "Dann ist es gut", erwiderte Wulfger gutmütig. "Dann ist das Land friedlich." Tiernan spuckte aus. "Ich bin Krieger. Kein Wachhund." Wulfger schüttelte den Kopf. Er war zufrieden, wenn Ruhe herrschte. Er wich keinem Kampf aus, aber er suchte ihn auch nicht; ein Krieger war mehr als nur sein Schwert. Tiernans Unzufriedenheit allerdings war in den vergangenen Wochen noch gewachsen. "Der Dienst im Norden ist ein Pflichtdienst", sagte Wulfger nach einer Weile. "Das weißt du. Sicherung der Grenzen. Sicherung der Bevölkerung. Je weniger es zu sichern gibt, desto besser ist es." "Deine Meinung." Tiernan schüttelte den Kopf. "Ich teile sie nicht." "Ich weiß." Wulfger nickte. Boswig, Geralt und Arnulf schwiegen betreten. "Ich sage: lass uns in die Berge ziehen." Tiernan schlug so fest mit der Faust auf den Tisch, dass einige andere Krieger zu ihnen herübersahen. "Lass uns den Kampf zu unseren Feinden bringen. Lass uns die Orks jagen und ausrotten. Sicherung der Grenzen ist nicht notwendig, wenn es den Feind nicht mehr gibt!" "Vielleicht haben sogar Orks ein Recht auf Leben." Tiernan brauste auf. "Das haben diese Monster verspielt. Ein Apfelbaum hat ausgereicht." Wulfger lachte trocken und schüttelte den Kopf. "Eine Legende. Wer weiß, was damals wirklich geschehen ist?" "Menschen bekämpfen Orks seit Jahrtausenden", sagte Arnulf. "Wir haben sie in die Berge zurückgedrängt", stimmte Boswig ein. "Sie trauen sich nur noch zu kleinen Raubzügen aus ihren Stollen und Höhlen", fuhr Tiernan fort. "Eine feige Rasse. Nicht lebenswert." Wulfger zögerte. Orks waren Monster. Aber was hatte Nabor selbst ihm einst gesagt? "Jedes Leben hat seinen Wert", murmelte er. "Sag das den Siedlern, die von Orks überfallen werden. Sag das den Menschen, die von diesen feigen Tieren massakriert werden." Tiernan war aufgebracht. "Es ist schon lange nichts mehr vorgefallen", erinnerte Wulfger ihn. "Wir selbst haben nur einmal Spuren gefunden. In eineinhalb Jahren." "Eine lange Zeit", stimmte Tiernan zu, aber Ungeduld und Missmut lagen in seiner Stimme. "Es muss etwas passieren. Hier im Norden gehe ich vor die Hunde." "Nicht mehr lange", besänftigte Wulfger seinen Freund. "Dreiviertel unseres Dienstes liegt hinter uns. Ein halbes Jahr noch, dann gehen wir zu unseren Herren und werden große Taten vollbringen." Boswig schnaubte, aber keiner beachtete ihn. Tiernans Augen funkelten. |
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